Mai 2023 - Heimat – was ist das?
Liebe Theaterfreunde und –freundinnen,
als Folge (2) unserer Newsletter zu unterschiedlichen Schwerpunktthemen schicken wir Ihnen heute, nach der Stückauswahl zum Thema „Geld“, Vorschläge zu „Heimat und Beheimatung“ – Voraussetzungen für ein gelingendes Leben und doch so oft bedroht.
- Die folgenden Stücke umkreisen „Heimat und Beheimatung“ aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Sie richten sich an Spieler:innen zwischen 14 und 18 Jahren oder an junge Erwachsene:
Die junge Autorin Hannah-Sofie Schäfer beschäftigt sich in allen ihren Stücken mit der Frage nach Beheimatung. „Auf dem Dorf“, „Zuhause“, „Gedanken im Szeneviertel“ – alle drei Titel verraten schon, worum es geht. Was erwarten wir von unserer Zukunft? Wie gehen wir mit Verlusten um? Wann fühlen wir uns fremd und ausgeschlossen?
In unserer Zeitschrift „Spiel & Theater schrieb Klaus Wegele zu den Stücken von Hannah-Sofie Schäfer:“: „…Kaum vorstellbar, dass bei dieser Art von Theater eine reine Textwiedergabe entstehen kann. Sie regen durch ihren Charakter in hohem Maße künstlerische Prozesse an.“ (ST Oktober 2021)
Ganz anders Markus Mohr in seinem Mehrgenerationenstück „Bloß weg! Oder Die Flucht der Kinder“: Drei Jugendliche leben nach ihren eigenen Regeln, ihren eigenen Fantasien, in einem Wohnwagen im Wald. Die kleine Gemeinschaft wird aber bald von den Eltern aufgespürt und zur Rückkehr in die so genannte Realität zurückgeholt. Wie in seinen anderen Stücken bezieht Markus Mohr auch in dieses einige interessante surreale Elemente mit ein.
Auch Lorenz Hippe beschäftigt sich in „Letzte Warnung – a long way home“ mit der Frage, was es bedeutet, wenn Jugendliche von zuhause abhauen.
Mira schreibt ihrer Mutter: „Ich werde drei Tage am Meer sein. Ich kann nicht mehr. Ich will, dass sich in unserer Familie etwas ändert. Letzte Warnung!“
Das Stück erzählt die Geschichte von Miras Flucht und parallel dazu die Suche ihrer verzweifelten Mutter.
Der Autor und Theaterpädagoge Lorenz Hippe leitete 2021 einen Workshop zum szenischem Schreiben unter dem Oberbegriff „Heimweh“. Die beeindruckendsten Geschichten, Szenen, Tagebuchnotizen, Gedichte und Songtexte haben wir in der Anthologie „Heimat suchen - Geschichten und Szenen von Flucht und Heimweh" 2022 veröffentlicht.
Während der Redaktionsarbeit wurden wir mit dem russischen Überfall auf die Ukraine konfrontiert, auf den die Herausgeber Gerd Müller-Droste und Henning Fangauf mit der kurzfristigen Aufnahme der Fluchtgeschichten von Betroffenen reagiert haben.
Diese Anthologie ist eine Fundgrube an unterschiedlichstem Textmaterial für Theater, Schulen und bildungspolitische Einrichtungen.
„Moses, die Sonne“, ein Kinder- und Jugendstück von Laurent Contamin hat in Frankreich schon mehrere Preise gewonnen.
Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen trifft sich heimlich in einem Gartenhäuschen. Sie teilen ein Geheimnis - fest entschlossen, die Erwachsenen nichts davon wissen zu lassen. Denn in der Hütte wurde ein Baby ausgesetzt. Die Kinder versorgen es mit frischen Windeln und Essen, gewinnen es lieb und finden die Wahrheit heraus: Seine Mutter hat es nicht ausgesetzt – sie hat ihren Sohn den Findern nur so lange anvertraut, bis sie sich selbst wieder darum kümmern kann.
Laurent Contamin erzählt in teils chorischen, teils dialogischen Sequenzen eine Geschichte von Solidarität und Phantasie, wie sie heutige Kinder, die mit Flucht und Vertreibung schon früh konfrontiert werden, jederzeit und überall erleben könnten.
„Langsam stiegen wir aus. Nicht nur aus dem Auto, sondern auch aus unserem alten Leben und machten uns auf den Weg.“ Ein Satz, der über allen drei Fluchtgeschichten stehen könnte, die unter der Leitung von Christian Reick, Spielleiter eines freien Ensembles und einer Schultheatergruppe in Münster, in Gemeinschaftsarbeit szenisch bearbeitet wurden. In „Verloren“ werden die Fluchtgeschichten von drei jungen Frauen zu unterschiedlichen Zeiten geschildert: Helga wurde nach dem 2. Weltkrieg aus Schlesien vertrieben, Jessy soll bestraft werden, weil ihre Mutter aus der DDR floh, und Tal ist aus Syrien übers Mittelmeer nach Europa geflohen.
Das Leben im Exil vor dem Hintergrund des arabischen Frühlings beleuchtet Gilles Boulans Schauspiel „Lampedusa“. In diesem subtilen und poetischen Stück geht es nicht nur um den arabischen Frühling und das Los der Flüchtlinge, die versuchen auf Schlepperbooten nach Europa zu kommen, sondern auch darum, was Exil bedeutet, welche kurz- und langfristigen Tragödien es hüben wie drüben beinhaltet. Dabei werden die Figuren in ihrer "kleinen" heutigen Geschichte vom mythologischen Kosmos des alten Ägyptens getragen und erhöht.
Ein anspruchsvolles Stück, von Wolfgang Barth übersetzt aus dem Französischen, das wir in unserer kleinen Reihe der Theaterstücke aus Frankreich unbedingt empfehlen, auch als schulischen Lesestoff.
Die Suche nach Identität und die Rolle, die das verlassene Herkunftsland dabei spielt, hat auch einen der berühmtesten deutschen Emigranten, Heinrich Heine, nie losgelassen. In einer szenischen Revue erinnert Dieter Kirsch in „Heimat – was ist das?“ an den großen Dichter, der gerade mit Bezug auf 175 Jahre Vormärz und die deutsche Revolution von 1848 auch als politischer Beobachter und Analytiker wiederentdeckt werden kann. Einzelne Szenen der zwölf Episoden, die neugierig machen auf Person und Werk, können auch für sich gespielt oder im Unterricht eingesetzt werden. (Die vorgeschlagene Musik ist fakultativ.)
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Weitere vier Stückvorschläge richten sich an (junge) erwachsene Spieler:innen:
„Muskat“ von Ulrike Zeitz: Nicole ist hochschwanger, findet aber nur schwer in ihre Mutterrolle. Ihr Mann organisiert eine Haushaltshilfe. Muskat, so heißt die gute Seele, ist selbst alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die jeweils verschiedene Väter haben. Mit ihrer Lebenserfahrung und ihren praktischen Ratschlägen ist sie für Nicole eine wahre "Perle" und wird bald ihre unentbehrliche Vertraute. Doch was ist eigentlich ihr Motiv? Tatsächlich Selbstlosigkeit und wahre Freundschaft? Es ist so bequem, sich diese Frage nicht zu stellen. Und so kommt es, dass Muskat irgendwann zum Mittelpunkt der kleinen Familie wird, die sie nach Belieben zu manipulieren weiß ...
Karin Strauß widmet sich in „Geburtstag“ dem auch hierzulande bekannten Phänomen, dass sich junge Männer in ihren Zimmern verschließen, in digitale Welten abtauchen und sich von außen notdürftig mit Nahrung versorgen lassen. „Hikikomori“ (Rückzug) nennen die Japaner diese totale Kontaktvermeidung, die dort schon seit langem beobachtet wird. In Karin Strauß‘ spannendem Stück, das 2017 in Nürnberg als Tanztheater uraufgeführt wurde, geht es aber nicht nur um den Sohn, sondern auch um die Funktion der Mutter in dieser lebensgefährlichen Abwendung von der Außenwelt, in der ein Zimmer zum Gefängnis wird.
Auch „Nacht“ ebenfalls von Karin Strauß, in Zusammenarbeit mit Ismail Jafar entwickelt, spielt in einem Zimmer oder in einer kleinen Wohnung:
Eine zufällige, unfreiwillige, nächtliche Begegnung: ER ist jesidischer Flüchtling, SIE eine Furry-Anhängerin. Zwei Welten, die keine Berührungspunkte haben. Wäre da nicht auch ein Funken Neugier, der Fehleinschätzungen und Sprachhindernisse relativiert ... Außer den Rollen von IHM und IHR sind die Rollen der SCHATTEN in diesem Stück von großer Bedeutung: Die SCHATTEN der beiden Figuren geben wider, was diese denken und fühlen, oft in Rollenprosa, manchmal darüber hinausgehend.
„Querschuss“ ist der Titel des erst kürzlich erschienenen Stücks von Niclas Vater. Nick lebt in einem Dorf, zusammen mit seinen Eltern. Es gefällt ihm dort, auch wenn das Verhältnis zu den Eltern schwierig ist. In den Sommerferien lernt er Levin kennen, der mit seiner Familie die Ferien auf dem Land verbringt und sich tödlich langweilt. Als er Nick kennenlernt, ändert sich alles - für beide, und Nicks familiäre Situation eskaliert.
Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre und senden Ihnen alle unsere Stücke jederzeit gerne als komplette Leseexemplare. Zur Hälfte können Sie sie sogleich auf unserer Website www.dtver.de anlesen.
Mit herzlichen Grüßen von der Bergstraße
Ihr
Deutscher Theaterverlag
Gabriele Barth